Beste Jahre by von Düffel John

Beste Jahre by von Düffel John

Autor:von Düffel, John [von Düffel, John]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832188078
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2015-07-19T16:00:00+00:00


11

Stendal

Ich hatte lange nicht mehr an Stendal und meine Anfängerjahre dort gedacht – zu viele andere Dinge waren in der Zwischenzeit wichtiger geworden und gewesen. Doch noch Tage nach unserem gemeinsamen Abendessen wunderte ich mich über die Genauigkeit, mit der HC sich daran erinnern konnte (entweder hatte er ein sehr viel besseres Gedächtnis als ich oder doch kein so abwechslungsreiches Leben als Staatsanwalt). Bruchstückhaft kam durch die vielen Einzelheiten, die er noch wußte, auch bei mir die Erinnerung zurück – an weitgehend dieselben Menschen und Ereignisse, von denen er bei seinem Besuch erzählt hatte, doch an ganz andere Gefühle.

Ich war im Frühsommer 1991 zur Vorprobenzeit mit einer Kofferraumladung von Textbüchern, Schallplatten und zwei Reisetaschen voller Klamotten nach Stendal gefahren und hatte, kurzentschlossen, eine der ersten sanierten Altbauwohnungen nahe der Fußgängerzone bezogen. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar gewesen, wie rigoros die Siedlungspolitik der SED gerade den Stadtkern mit seinen alten Bürger- und Geschäftshäusern entvölkert hatte, um die damals knapp 50.000 Einwohner im Namen von Gleichheit und Brüderlichkeit in den Plattenbauten am Stadtrand zu beheimaten. Was ich bei meinem Vorsprechen und der kurzen, überhasteten Wohnungssuche für das Zentrum hielt, war die Breite Straße mit einem Konsum, einem Bekleidungsfachgeschäft, das noch nicht ›Boutique‹ hieß, und einigen wechselnden Ramsch- und Billigläden, die sich direkt nach der Wende auf den brachliegenden Verkaufsflächen ebenso schnell ausbreiteten, wie sie wieder verschwanden. Hinzu kam der unvermeidliche Backshop einer westdeutschen Großbäckerei, eine Containerfiliale der Deutschen Bank sowie der eine oder andere »Getränkestützpunkt« aus DDR-Zeiten – eine Namensgebung, die in mir den Eindruck noch verstärkte, irgendwo auf feindlichem Terrain gestrandet zu sein.

Erst als ich schon in der vermeintlichen Mitte von Stendal wohnte, fragte ich mich, warum an Werktagen und Wochenenden so wenig Leben auf den Straßen herrschte. Mir schwante, daß »Innenstadt« in Ost und West wohl nicht ganz dasselbe bedeutete. Hinter den bröckelnden Fassaden der einstigen Haupteinkaufsstraße wohnte außer mir kaum jemand, der die Wahl hatte. Ganze Viertel und Straßenzüge wie das Gelände am Hook mit seinen alten Wohn- und Fachwerkhäusern waren nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht erst wiederaufgebaut worden. Im Putz der verwitterten Mauern zwischen den ersten Nachwende-Graffitis befanden sich noch die original Einschußlöcher der MG-Salven vom Häuserkampf anno 1945.

Das spärliche soziale Leben von Stendal spielte sich in den Jugendtreffs der Plattenbausiedlungen und vor den dortigen Kaufhallen ab. »In die Stadt« zum Einkaufen, Essen oder ins Theater fuhr damals freiwillig so gut wie niemand. Es gab einen riesigen »Nachholebedarf« in allen Bereichen, nur Theater stand nicht auf dem Wunschzettel, schließlich gehörte es zu den wenigen Dingen, die es genauso wie Spreewaldgurken immer schon gegeben hatte. Noch dazu lief man in Foyer und Zuschauerraum Gefahr, den einen oder anderen alten Bekannten wiederzusehen, dem man nach der Wende besser nicht begegnen wollte. Von daher machten die meisten lieber ungeniert in Privatleben.

Es war ein kleines, sehr überschaubares Häuflein treuer Theaterliebhaber, für die wir damals spielten. Kaum ein Stück erlebte mehr als vier bis fünf Vorstellungen, spätestens dann hatte es jeder, der wollte oder mußte, gesehen – wobei selbst diese wenigen Aufführungen oftmals vor geisterhaft leeren Stuhlreihen stattfanden.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.